| 18. Mai 2022

Virtuelle Hauptversammlung: Zukunfts- oder Auslaufmodell?

Die Coronapandemie hat auch zur Digitalisierung von Hauptversammlungen in Deutschland beigetragen.

Über die aktuelle Entwicklung.

Was zu Beginn noch „Notlösung“ war scheint sich mittlerweile zu bewähren und soll per Gesetz zur dauerhaften Möglichkeit werden: Die virtuelle Hauptversammlung geht in die dritte – und doch letzte Runde? Zwar können Unternehmen künftig aus dem Instrumentarium von klassischer Präsenzversammlung, hybrider Veranstaltung und Online-HV wählen, aber ist die Wahl der virtuellen Hauptversammlung künftig auch eine gute?

Das Bundeskabinett hat am 27. April den vom Bundesjustizminister vorgelegten Entwurf eines Gesetzes zur Einführung virtueller Hauptversammlungen von Aktiengesellschaften und Änderung weiterer Vorschriften beschlossen. Aufgrund der COVID-19-Pandemie war die Möglichkeit geschaffen worden, Hauptversammlungen ausschließlich im virtuellen Format abzuhalten. Vor dem Hintergrund der grundsätzlich positiven Erfahrungen soll die virtuelle Hauptversammlung als dauerhafte Regelung im Aktiengesetz eingeführt werden mit dem Versuch, die Interessen von Aktionären und Gesellschaften in Einklang zu bringen. Leider aber kombiniert der Gesetzesentwurf das Schlechte aus Präsenz- und virtueller Versammlung – zumindest aus Sicht der Gesellschaften.

Laut Referentenentwurf waren die Erfahrungen in der Pandemie mit virtuellen Hauptversammlungen im Großen und Ganzen gut. Man habe etwa steigende Präsenzraten in den Versammlungen beobachtet. Die Vorverlagerung der Ausübung der Aktionärsrechte und Entzerrung der Versammlung wurden aus Unternehmenspraxis und Wissenschaft ausdrücklich gelobt. Dennoch gab es Kritik von Aktionärsseite, die ohne lebendigen Dialog zwischen Aktionären und Unternehmen eine Einschränkung der Aktionärsrechte sah. Im Gesetzentwurf wurde nun in diesem Punkt deutlich nachgeschärft. Insgesamt orientieren sich die Pläne zur virtuellen Hauptversammlung damit stärker an dem Format der Präsenzveranstaltung. Allerdings gibt es hierzu Kritik seitens der Juristen. Denn in den letzten Jahren haben endlose und unproduktive Diskussionen die Hauptversammlungen oft über Stunden in die Länge gezogen. Man habe den ganzen Erfahrungsschatz der vergangenen zwei Jahre völlig ignoriert und damit eine Chance unnötig vertan, die Versammlungen mehr an die realen Gegebenheiten einer Hauptversammlung anzupassen. Mehr noch, eine Spiegelung der Präsenz-HV im virtuellen Format sei kein Fort-, sondern ein Rückschritt.

Beate Rosenfeld
Director IR/PR bei PRIMEPULSE

Der Regierungsentwurf zur virtuellen Hauptversammlung stärkt zwar die Aktionärsrechte, ist jedoch für die Gesellschaft mit hohem Aufwand und Risiken verbunden. Insbesondere durch das Nebeneinander von Auskunftspflichten der Gesellschaft sowohl im Vorfeld als auch im Rahmen der Hauptversammlung. Selbst wenn alle vorab eingereichten Fragen vor der Hauptversammlung beantwortet werden, sind in der HV neue Fragen zu beantworten. Zu der aus der Präsenz-HV gewohnten Backoffice-Einrichtung und -Vorbereitung (z.B. Q&A-Katalog) kommen aufwändige technische Vorkehrungen hinzu. Als nennenswerter Vorteil im Vergleich zur Präsenzveranstaltung scheint lediglich die Einsparung von Saalmiete und Catering zu bleiben.

Und für die Aktionäre?

Deren Durchhaltevermögen dürfte demnach wie bislang bei der Präsenz-HV noch mehr auf die Probe gestellt werden. Zumal einerseits die psychologischen Hürden bei der Präsenzversammlung wegfallen, andererseits die Aufmerksamkeitsspanne vor dem Bildschirm mitunter deutlich geringer sein dürfte als bei persönlicher Anwesenheit. Denn sind Nachfragen und Nachfragen zu Nachfragen beantwortet, Redebeiträge abgehandelt, Fragen zu neuen Sachverhalten und Redebeiträgen beantwortet, haben Aktionäre schließlich das Recht, auch Fragen, die bereits vorab hätten gestellt werden können, zu stellen. Der Versammlungsleiter darf erst nach einem angemessenen Zeitraum der Versammlung (bislang waren das regelmäßig vier bis sechs Stunden) derartige Fragen nicht mehr zulassen. Wer Rechtssicherheit will, wird allerdings keine Frage zurückweisen und Marathonversammlungen in Kauf nehmen.

Steht die virtuelle HV damit vor dem Aus?

Die virtuelle HV, die in den letzten beiden Jahren den Proof of Concept überzeugend geliefert hat, wird auf Grundlage des Regierungsentwurfs kaum eine praktische Zukunft haben. Der drohende Rückfall in die alten Denkmuster der unattraktiven, langwierigen Versammlung für wenige wäre sehr schade. Es bleibt offen, ob die virtuelle Hauptversammlung eine gangbare Option für die Gesellschaften im nächsten Jahr sein wird.

Quelle Titelbild: Primepulse SE

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